Peter Vahlefeld
Das menschliche Ideal
Der spanische Diplomat und Kulturphilosoph Salvador de Madariaga hat treffend auf ein wesentliches Charakteristikum der Deutschen aufmerksam gemacht, das in der deutschen Sprache zum Ausdruck kommt:
„Das Hauptmerkmal der deutschen Sprache … ist wohl das Vorherrschen des Wortes werden.(…)
Dieses Merkmal verleiht der Sprache eine Art von ständiger Bewegung, eine Qualität des Fließens …, welche der tiefste Wesenszug des deutschen Lebens ist.(…)
Was für England und Frankreich nur ein Gedanke unter vielen ist und für Spanien überhaupt kein Gedanke, ist für Deutschland geradezu der Wesenskern allen Denkens, so dass eben beide, die Sprache und das Denken, in Deutschland das Fließen eines Stromes annehmen.“
In diesem Empfinden des ständigen Werdens kommt die besondere Veranlagung des Deutschen nach unaufhörlicher Entwicklung seines eigenen Wesens zum Ausdruck, seines innersten Ichs.
Das Ich ist in seinem Grunde nichts Fertiges, sondern ein Werdendes, sich Entwickelndes.
Damit unterscheidet es sich von dem, was wir gewöhnlich im Alltag als „Ich“ bezeichnen, das ein Beharrendes ist, das immer bleiben will, wie es ist.
Dieses erscheint gleichsam als ein verzerrtes Spiegelbild des wahren, höheren Ichs, das selbst nicht unmittelbar in das Alltagsbewusstseins eintritt, sondern sozusagen im Hintergrund schwebt.
Aber sein Einfluss ist spürbar und beobachtbar. Wir messen die Zustände um uns und das Handeln der anderen Menschen mehr oder weniger unbewusst ständig daran, wie es eigentlich sein sollte.
Und wir merken, dass wir auch selbst mit unserem Verhalten, unserem Tun und unseren Fähigkeiten vielfach nicht zufrieden sind.
Wir genügen nicht unseren eigenen Idealen und moralischen Ansprüchen.
Wir bleiben zumeist hinter ihnen zurück.
Dies festzustellen, ist aber nur möglich, wenn es eine höhere Instanz in uns gibt, die das, was wir gewöhnlich Ich nennen, beurteilt und am eigenen höheren Maßstab misst – das höhere Ich.
Friedrich Schiller schrieb in seinen „Ästhetischen Briefen“:
„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“
Er verwies dabei auf seinen Freund, den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der ebenfalls das empirische, also das gewöhnlich erfahrbare Ich, von einem reinen, idealen Ich unterscheidet.
Dieses ist für ihn das „erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, aller Tat und Begebenheit“, das dem intelligenten, bewussten Ich logisch vorangeht.
Beide stimmen selten überein, sie aber zur vollkommenen Übereinstimmung zu bringen, sei die ständige Aufgabe und Bestimmung des Menschen.
Doch dazu reiche der bloße Wille nicht aus. Wir müssten uns allein und gemeinsam in einem ständigen Prozess des Lernens und der Selbsterziehung die Fähigkeiten dafür erwerben, um die Widerstände und Hindernisse der Sinneswelt zu überwinden. Und diesen ganzen Prozess des Erwerbs vielfältiger Fähigkeiten mache letztlich das aus, was wir „Kultur“ nennen.
Darin, dass die Ich-Entwicklung der inneren Anstrengung und Aktivität des Ichs selbst bedarf, liegt aber nun die Ursache, warum sie von vielen, ja den meisten Deutschen nur schwach angestrebt wird.
Aber die Sehnsucht nach dem Höheren lebt in jedem, wenn auch noch so verborgen; und kann er es in seinem Inneren nicht finden, so scheint es ihm stattdessen von außen in der hohen Obrigkeit bequem entgegenzukommen.
„Die innere Herrschaft des Ichs im einzelnen Menschen verwandelt sich in die äußere Herrschaft des Staates über ihn.“
Der Mensch bleibt im Alltags-Ich stecken, das an die äußeren Verhältnisse gebunden ist, und empfängt gehorsam die Anordnungen der staatlichen Herrschaft, der es sich wie selbstverständlich unterwirft.
Und wer als Funktionsträger, als Beamter in den Machtapparat aufsteigt, wird selbst zu einem Teil dieses höheren Pseudo-Ichs, der einerseits nach unten über den einzelnen Menschen als seinen Untertan stolz gebietet und andererseits den Vorgesetzten über ihm in treuer Pflichterfüllung ergeben ist.
Hier liegt der eigentliche Ursprung der deutschen Obrigkeitshörigkeit, des ausgeprägten Untertanengeistes, der so verhängnisvoll gewirkt hat und bis in die unmittelbare Gegenwart wirkt.
Denn es ist prinzipiell kein Unterschied zwischen der Obrigkeit eines pompösen, hohlen „Gottesgnadentums“, eines aufgeblähten Usurpators oder der durch scheindemokratische Wahlen erhobenen egomanischen Parteienkaste, die heute mit denselben überkommenen Machtstrukturen ihre Herrschaft ausübt.
Sie werden noch durch die modernen psychologischen Mechanismen einer vielseitigen medialen Bewusstseinsindustrie unterstützt, welche täglich die Herrschaft dieser Clique von Oligarchen propagandistisch absichert und die eingeschläferten Untertanen immer wieder zu deren Wiederwahl an die Urnen führt, in denen ihre Hoffnungen stets neu begraben werden.
Nur aus dem Erleben der inneren, in sich selbst gegründeten Unabhängigkeit des höheren Selbst kann die Empörung gegen jede Form von Fremdbestimmung wachsen, die den Menschen nicht als freies, sich selbst bestimmendes Ich, als Subjekt, sondern als Objekt eines fremden Willens behandelt und zum folgsamen Untertanen macht.
Anmerkungen [3] Salvador de Madariaga: Porträt Europas, Stuttgart 1953, S. 100 f. [9] Hans Erhard Lauer: Die Volksseelen Europas, Stuttgart 1965, S. 171 Veröffentlicht am 7. Oktober 2017 von Herbert Ludwig in Gesellschaft und Kultur
In Deutschland hat es hingegen noch nie eine erfolgreiche Revolution gegeben: Der große Bauernaufstand des 16. Jahrhunderts im Süden Deutschlands und die Deutsche Revolution 1848 wurden allesamt niedergeschlagen.
Das Wahlrecht im preußisch-dominierten Deutschen Kaiserreich wurde auch nicht von der Bevölkerung durch einen Sturz der Regierung erkämpft, sondern von der Regierung verordnet.
Der Sturz des DDR-Regimes war auch in erster Linie nicht den mutigen Demonstranten in ostdeutschen Städten zu verdanken, sondern dem mangelnden Unterstützungswillen seines Schirmherrn Sowjetunion, die selbst in tiefer wirtschaftlicher Not steckte.
Ohne den Beistand der Sowjetunion hatte das DDR-Regime keine Chance, um dem Druck der inländischen Widerstandsbewegungen und der Westmächte standzuhalten.
Schließlich sah sich der DDR-Staatsapparat gezwungen, seine Macht an die Bundesrepublik zu übertragen.
Die Demokratie der Weimarer Republik war auch nicht das Ergebnis einer von der breiten Bevölkerung getragenen Graswurzel-Revolution gewesen, sondern das Resultat der militärischen Niederlage des Deutschen Kaiserreiches im 1. Weltkrieg.
Und die Bundesrepublik in Westdeutschland?
Das parlamentarische und demokratische System der Bundesrepublik wurde unter der Aufsicht der Siegermächte errichtet. Die deutsche Bevölkerung hat weder dieses Recht selbst erkämpft, noch war sie an der Konstitution der Verfassung beteiligt.
Darum wage ich zu behaupten, dass die Bürgerrechte und die Demokratie im gegenwärtigen Deutschland in erster Linie von den Obrigkeiten verordnet wurden, nicht von der Bevölkerung (im Gegensatz zu anderen westlichen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, USA) selbst aktiv erkämpft wurden.
Da das deutsche Volk selbst nicht an der Errichtung der demokratischen Systeme in Deutschland beteiligt war, hat es keine selbstbewusste, ja rebellische Kultur gegenüber der Obrigkeit entwickelt, wie es in Frankreich oder England der Fall ist.
Stattdessen setzen viele Deutsche blind ihr Vertrauen auf die Autorität ihrer jeweiligen Regierung.
Die deutsche Gesellschaft ist stark von der Achtung der Autorität, von Disziplin, Gehorsam und Titelverehrung geprägt.Als Beispiel sei das hierarchische deutsche Hochschulwesen genannt. In den deutschen Universitäten sind Professoren Könige ohne Kronen, die in der Regel wenig mit ihren Studenten interagieren und die Lehrtätigkeit zu oft als eine lästige Nebensächlichkeit betrachten. In den Hochschulen der USA findet hingegen wesentlich mehr Austausch von Professorenschaft und Studenten auf Augenhöhe statt. In Deutschland herrscht eine regelrechte Titelverehrung. In den USA ist der Doktortitel nur eine Bildungsqualifikation, die im privaten Leben nicht auftaucht.
In Deutschland hingegen ist der erworbene Doktortitel Teil des Namens, der ständig und jederzeit vorgezeigt wird. Titel sind auch eine Form der Autorität und ein sozialer Status. Vor gar nicht so lange Zeit wurden die Ehefrauen von deutschen Professoren „Frau Professor“ genannt, obwohl sie selbst keine Professoren waren.
Fakt bleibt, dass die Beamtenmentalität des 19. Jahrhunderts in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt ist. Die Regierung ist für die Mehrheit der Bevölkerung die Autorität.
Warum schweigen viele Deutsche in der Migrationskrise, abgesehen davon, weil sie nicht als rechts abgestempelt werden wollen? Viele schweigen, weil sie ihr Vertrauen immer noch auf die Regierung setzen und die Erwartung haben, dass die Regierung die Fehler selbst korrigiert. Viele schweigen, weil sie (eine bewusste oder unbewusste) Abneigung gegenüber Graswurzelbewegungen haben, die gegen die Regierung gerichtet sind. Viele schweigen, weil sie der Obrigkeit gehorchen.
Wenn wir die Ursachen der Flüchtlingskrise genannten Migrationskrise verstanden haben, dann lautet die nächste Frage, wie wir politisch aus dieser Krise herauskommen. Der Schlüssel liegt wiederum in der von mir genannten dritten Ursache der Krise: dem Obrigkeitsgehorsam.
Deutschland kann meines Erachtens nicht von unten nach oben durch eine Graswurzelbewegung alleine verändert werden. Ebenso kann eine grundsätzliche politische und ideologische Ausrichtung nicht von unten herbeigeführt werden. Dies haben die 68er-Studenten ebenfalls erkannt. Durch den „Marsch in die Institutionen“ hat es diese Generation geschafft, in die Führungspositionen der staatlichen Institutionen zu gelangen und Deutschland von dort aus – von oben – umzugestalten. Dies haben auch die Verfechter von „Frauenquoten“ oder „Migrantenquoten“ verstanden, weil sie wissen, dass sie in einem Land wie Deutschland solche Veränderungen am effizientesten durch staatliche Verordnungen und Vorgaben (Autorität) bewirken können.
Wenn eine Partei wie die AfD den Anspruch erhebt, die deutsche Politik vom Würgegriff der linken politischen Korrektheit zu befreien und Deutschland konservativ umzugestalten, dann schafft sie das nur durch das Erlangen von Autoritäten durch Präsenz in den staatlichen Institutionen, in den Parlamenten und in der Regierung, um letztendlich die deutsche Politik von oben herab zu gestalten. Die ideologie-basierte Einschränkungen und Selbstentmachtung der etablierten Parteien spielen einer Partei wie der AfD dabei in die Hände. Das grundsätzliche Problem bei den etablierten Parteien in Deutschland besteht darin, dass sämtliche etablierte Parteien außerstande sind, sich in wahlentscheidenden Themen wie der Einwanderungspolitik oder Integrationspolitik von der politischen Korrektheit zu lösen und zu handeln. Das hat zur Folge, dass diese Parteien ihre Handlungsfähigkeit und Spielräume extrem einschränken und keine Antwort auf viele wichtige Fragen unserer Zeit geben können.
Daher sieht alles danach aus, dass die bisherigen Volksparteien CDU und SPD immer weiter an Wähler an die AfD einbüßen und dabei allmählich ihren Status als Volksparteien verlieren werden. Vor allem aber sind die bisherigen etablierten Parteien Grüne/Linke/CDU/SPD so sehr in ihrer politischen Korrektheit verfangen, dass sie Themen nicht mehr ansprechen wollen und können, die vielen Menschen in Deutschland unter den Nägeln brennen. Diese Themen reichen vom Euro, von der Schuldenrettung europäischer Staaten, Masseneinwanderung bis hin zur Ausbreitung des politischen Islams.
Die Migrationskrise, die wir gerade erleben oder erlebt haben, ist das Ergebnis einer völlig verfehlten und unkontrollierten Einwanderungspolitik in Deutschland, bei der ein Großteil der derzeit nach Deutschland strömenden Migranten überhaupt nicht vor der Einreise vorgeprüft wurden, ob sie mit ihrer Vorbildung und mit ihren Einstellungen überhaupt in ein säkulares, aufgeklärtes und postindustrielles Deutschland des 21. Jahrhunderts passen würden. Somit entwickelt sich Deutschland parallel zu der unkontrollierten Einwanderung Millionen Geringqualifizierter aus Dritt-Welt-Ländern in rasantem Tempo hin zu eben jenen archaisch-rückständigen Ländern, aus denen die meisten gegenwärtigen Migranten herkommen. Ein deutscher Staat, der die politische Einheit der EU über die eigene Verfassung stellt und ein deutscher Staat, der das Interesse seiner eigenen Bevölkerung nicht zu schützen weiß, der kann und wird von den Großmächten und Weltmächten unserer Zeit nicht ernst genommen werden und nicht imstande sein, die Lebensweise und den Wohlstand der eigenen Bevölkerung zu erhalten.
Heinrich Mann hat sich über ihn lustig gemacht. Der Kaiser hat ihn millionenfach in den Tod geschickt. Die Nazis haben ihn höchst effektiv eingesetzt und sterben lassen. Die Rede ist vom Untertan. Der Untertan, er ist keine rein deutsche Erscheinung, aber er ist doch eine Erscheinung, deren Auftauchen man in Deutschland nach all den Erfahrungen aus der Vergangenheit nicht erwartet. Und dennoch, nie war der Untertan verbreiteter als heute, heute, da der deutsche Sozialstaat nicht nur die Erziehung und Finanzierung übernommen hat, sondern auch gleich die richtige Gesinnung mitliefert. Deutsche Untertanen, sie müssen nicht einmal mehr denken: Get yourself born, we do the rest. So hat Jerome K. Jerome bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den deutschen Untertan beschrieben, dessen unbedingten Glauben an das Schild „Das Betreten des Rasens ist verboten“, er nicht nachvollziehen konnte, unter vielen anderen Dingen, die er nicht nachvollziehen konnte. Gut 100 Jahre später sollte man das Motto: Schau‘ zu, dass Du Dich geboren kriegst, wir erledigen den Rest, als Motto des deutschen Interventionsstaates in Gold gesticktem Brokat über deutschen Betten aufhängen, auf dass der deutsche Untertan auch wahrlich nicht anfängt, selbst zu denken und die Verantwortung für das zu übernehmen, was er da gedacht hat. Der Liberalismus, die Gefahr des freien Denkens bei gleichzeitiger Haftung für das Gedachte, er war nie das Ding der meisten Deutschen. Sie wollen Vorgaben, wollen wissen, was richtig ist, die richtige Gesinnung nicht nur vorgegeben, sondern auch durchgesetzt haben. Das wollen sie. Wo kämen wir hin, wenn jeder seine begründete oder weniger begründete Meinung zu allem sagen könnte, was ihn bewegt und womit er sich beschäftigt hat? Über kurz oder lang in Widerspruch zu staatlichen Gesinnungsvorgaben, und das darf nicht sein.